Ein guter Freund ist gegangen und hinterlässt eine große Lücke. Mit ihm habe ich gelacht und Witze gemacht, von ihm habe ich gelernt und eine Menge an Veranstaltungen durchgeführt. Wir haben uns manchen Diskussionen ausgesetzt. Was immer inspirierend war. Z. B. die Fachtagungen „Trübe Sehnsüchte oder verwirklichte Rechte – Sexualität in Einrichtungen“ – im Roten Rathaus, oder: „Die Demokratisierung der Lust“ und zuletzt „Sex, Work & Disability“. Die Titel kamen von ihm. Ich wäre da zurückhaltender gewesen. Aber sie waren genau richtig und waren Programm. Mutig hat er mich und Dr. Theben, den Dritten in unserem Bund, angestachelt. Kein Risiko scheuten wir. Was wir uns in den Kopf gesetzt hatten, das zogen wir auch durch. Einmal mussten wir eine Fachtagung sogar verschieben. Da kränkelte er schon. Aber berappelte sich dann doch wieder.
Ohne ihn wären wir politisch beim Thema „Sexualität und Behinderung“ nicht so weit, wie wir es heute sind – wenn auch weit von dem noch entfernt, was er wollte und wofür wir gestritten und gekämpft und uns eingesetzt haben. Gleiche Rechte für alle! Auch bei der Sexualität.
Vielleicht haben wir uns über ein Interview für die Zeitschrift „Mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen“ oder die Initiative „Sexybilities“ kennengelernt. Welche eine Leistung und welcher Erfolg! Da hat er wirklich am ganz großen Rad gedreht.
Er hat mich unbefangen gemacht im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Das Wort „Behinderung“ will ich eigentlich nicht benutzen. Er war da unkomplizierter. Aber er hat mich inspiriert, den Menschen zu sehen, neugierig auf ihn zu sein, ihn kennen zu lernen, um dann festzustellen, wie viele Parallelen es zwischen uns gibt und wie viele Unterschiede. Aber bei den Grundbedürfnissen, laut seiner Aussage: Essen, Ficken und Fernsehen, sind wir dann doch fast alle gleich.
Wir haben Champagner geschlürft und das beste Essen genossen, von einem kleinen feinen Dinner bei ihm zuhause bis hin zu einem voluminösen afrikanischem Festmahl. Er hat das Kochen geliebt, gab genaue Anweisungen für die Zutaten und Gewürze und schmeckte selbst akribisch ab. Ich saß lieber daneben, völlig erschöpft vom Einkauf und liebte die Gespräche, das emsige Miteinander und das Open End. Nicht zu vergessen die unzähligen Küchenlesungen. Neben spannenden Krimis stellte er auch seine Werke vor. Alles war natürlich ohne Speiß und Trank nicht denkbar.
Verrückt war unser Einsatz beim Film „Army of Love“, der auf seine Überlegungen und Texten aufbaute und von denen sich die Filmemacher Alexa Karolinski und Ingo Niermann hatten inspirieren lassen. Wir tänzelten in Lack- und Lederkostümen um ein Schwimmbecken herum oder amüsierten uns nackt im Wasser mit anderen, individuellen, internationalen Freigeistern. Eine abgefahrene Geschichte, die ich allein nie mitgemacht hätte.
Aus der Ankündigung: „Romantic love is saturated with commoditization. The socialistic premise behind “free love” crumbles when desiring competition gets in the way, and in the age of hook-up apps, the possibility of free sex represents the liberalization, not the liberation, of love. ‚Army of Love‘ (2016) introduces a propositional regiment of soldiers diverse in age and appearance and tasked with solving the persistent social malaise of dire loneliness.“
Er scheute sich nicht seinen nackten Körper zur Schau zu stellen – wie alle anderen – (außer mir) und dabei zu philosophieren über Attraktivität und was das Leben ausmacht.
Natürlich verband uns am meisten unser gemeinsames Interesse an der Sexarbeit. Er: der Kunde. Ich: die Sexarbeiterin. Lange hat er gegen die Arbeit als Sexualassistenten argumentiert, immer verlangt, dass jede Sexarbeiterin auch behinderte Kunden bedienen müsse. Die Bezeichnung „Sexualassistenz“ war ihm schon suspekt, weil es nach etwas `Besonderem` für Behinderte klang, nach Hilfe, nach Almosen, nach Therapie, nach: Behinderte sollten mit einer Sexualassistentin zufrieden sein und nicht die fantastische Auswahl an Sexarbeiter*innen und die Vielfalt an sexuellen Dienstleistungen in einem Bordell genießen.
Doch immer stand er an der Seite von uns Sexarbeiter*innen und hat seine Stimme erhoben und war sich auch nicht zu fein, die Rolle der Kunden zu verteidigen – und ist dafür vielfach – auch öffentlich – angegriffen worden. So z. B. in der Veranstaltung von Alice Schwarzer in der Urania, die ihm tatsächlich vorwarf, er müsse halt auf Sexualität verzichten, wenn er seine Hände zur Selbstbefriedigung nicht mehr einsetzen können. Das hat mir den Atem stocken lassen. So viel Menschenverachtung!
Er dagegen war immer empathisch, kein Schicksal, kein Ereignis, kein Leid und keine Freude waren ihm fremd. Und immer fand er den passenden theologischen Spruch oder eine philosophische oder geschichtliche Erklärung. Er hat in unzähligen Gremien gesessen, kannte Gott und die Welt und rollte auf jeder Demo mit. Immer mit einem passenden Plakat.
Und selbstverständlich war er – bei brüllender Hitze, die er so sehr liebte – bei dem Schwarmkunstprojekt „Strich / Code / Move“ der Kampagne „Sexarbeit ist Arbeit. Respekt!“ dabei mit seiner Präsenz, den Workshops und seinem grandiosen Auftritt bei der DASPU Modenschau, einem Sexworker` Modelabel aus Rio de Janeiro. Wenn ich mir das Bild heute betrachte, so glaube ich, dass er sich schon da auf den Weg gemacht hat in eine andere Welt mit seinen Flügeln und seinen Beinschonern. Sein Kostüm beschrieb er selbst: „An den Wangen trage ich zwei Federn einer Gelbstirnamazone (das ist ein südamerikanischer Papagei). Federn sind Kraftobjekte. Sie sind dem Flug verhaftet, der Änderungen der Perspektive, des Abhebens, der Sicht von oben. Leute, die Sterbeerfahrung gemacht haben, ohne dann daran tatsächlich zu sterben, berichten sehr häufig davon, dass sie ihren Körper von oben gesehen haben, aus der Vogelperspektive sozusagen. Der Schlauch des Atemgerätes ist eine Art Superkrawatte (mit Seidenstoff umwunden und Glitzer, der Bart ist gebunden und hat einen Frauentorso aus Glas am unteren Ende.“ Wie inhaltsstark ist das denn? Oder in die Räder des Rollstuhls waren zwei Schlangen geflochten, deren Kopf und Schwanz sich berührten. Ein uraltes Symbol für die Ewigkeit.Vorbereitung auf das Leben danach?
(Das phantastische Interview in kobinet vom 30. 07. 2020 gibt mehr Einblicke zu seinem Auftritt als Model.)
Auf jeden Fall war er immer dabei und hat es genossen. Er war ein Held!
Ich vermisse ihn sehr: Stephanie Klee
Silentium
Donnerstag, 14. 05. 2020 von 20.30 – 21.30 Uhr
Eine besondere Erinnerung an Matthias Vernaldi
live auf ukw 88,40 in berlin und 90,70 ukw potsdam
oder im livestream zur sendezeit
unmittelbar danach gibt es einen link zum podcast
https://piradio.de/programm/sendung/43322.html
50 Jahre Freundschaft
Erinnerungen an Matthias Vernaldi – geschrieben von Roland Walter
https://kuenstlerrolandwalter.files.wordpress.com/2020/04/50-jahre-freundschaft.pdf
Tagesspiegel vom 14. 04. 2020
„Ich fläze, ich hänge“
Der Geist ist stärker als der Körper! Nachruf auf einen, der sein Verfallsdatum um mehr als das Doppelte überschritt von https://www.tagesspiegel.de/berlin/nachruf-auf-matthias-vernaldi-geb-1959-ich-flaeze-ich-haenge/25710416.html?fbclid=IwAR1Mlb7tmQq4QR0_m5M4uiIktod64eijEn5CZkb_3kdtitqBBIOV_A3w7NU
taz vom 17. 03. 2020:
Unverschämt lebendig
https://taz.de/Nachruf-auf-Matthias-Vernaldi/!5668601/
Berliner Zeitung vom 24. 03. 2020:
Der Tod von Matthias Vernaldi: Es gab noch so viel zu tun
https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/der-tod-von-matthias-vernaldi-es-gab-noch-so-viel-zu-tun-li.79467
Newsletter Behindertenpolitik vom März 2020:
„Es war mein Leben – so richtig meins“
https://archiv-behindertenbewegung.org/archiv/1-79-2020_(31-03-2020_20-08-41).pdf
Ein wunderbarer Beitrag über Matthias Vernaldi von der ARD:
Schräg, fromm und frei
die kommunarden von hartroda
Fantastische Radiobeiträge auf Pi Radio:
https://hearthis.at/pi-radio/set/mondkalb/?fbclid=IwAR1cs37LNBoby0Q7v77U4ZSyiZY4rrt9RDPypHsPy0gywBaIOjQu_cFlUKY