Corona stellt uns alle vor große Herausforderungen. Die Einschränkungen, die der Prostitutionsbranche auferlegt werden, werden unterschiedlich gemeistert. Schon jetzt muss festgestellt werden, dass sich wieder mal die Schwere zwischen den Großen und Kleinen, den etablierten Integrierten und eher schon vor der Krise vulnerablen Gruppen deutlich wird. Steuerlich angemeldete und nach dem Prostituiertenschutzgesetz registrierte Sexarbeiter*innen profitieren selbstverständlich von allen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, erhalten Grundsicherung oder Zuschüsse als Solo-Selbstständige, wie die Künstler, die Gastronome, die Therapeuten, etc.
Besonders hart betroffen sind Sexarbeiter*innen, die schon vor der Corona-Krise durch die Roste der Sozialsysteme fielen:
– Sexarbeiter*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus,
– Sexarbeiter*innen, die hauptsächlich für ihren Drogenkonsum anschaffen gehen,
– Sexarbeiter*innen ohne eigene Wohnung,
– Sexarbeiter*innen aus der EU, die wegen Corona nicht mehr in die Heimat zurückreisen konnten,
– Sexarbeiter*innen, die nach der allgemeinen Bordellschließung diese verlassen mussten und so das Dach über dem Kopf von jetzt auf gleich verloren haben,
– Sexarbeiter*innen ohne Krankenversicherungsschutz,
– etc.
Das Wort „Vulnerable“ ist mehr als bedenklich, denn es lenkt den Blick (und das Verständnis) ausschließlich auf den Aspekt ihres Lebens, der scheinbar fehlt – im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung, der sie schutzbedürftig erscheinen lässt, sie schnell nur als Opfer sieht. Dabei wird immer die Stärke, die Professionalität, ihr absoluter Überlebenswille, ihre freie Entscheidung für das Leben hier und gegen ein Leben dort und die Kraft, aus Nichts ein Überleben zu meistern, übersehen.
Aber sie leiden unter Corona auch doppelt und dreifach, nein mehrfach:
– sie dürfen nicht mehr in der Sexarbeit arbeiten und stehen ohne Einkommen da,
– sie können nicht auf Rücklagen zurückgreifen, die sie sich nie ansparen konnten, weil sie es nicht gelernt haben und weil es dafür nie reichte; immer lebten sie von heute auf morgen: von der Hand in den Mund,
– ohne Einkommen können sie auch die tägliche Miete in den spezielle Pensionen nicht bezahlen und werden obdachlos,
– und sie treffen auch auf Kunden, die die Situation ausnutzen und die Preise drücken,
– oder sie treffen auf Kunden, die „ein Herz haben“, sie bei sich privat aufnehmen…..aber sich das vielleicht auch „bezahlen“ lassen,
– dabei gehen sie natürlich das zusätzliche Risiko ein, sich mit Corona anzustecken und
– werden sie „erwischt“ auch noch ein völlig überzogenes Bussgeld bezahlen zu müssen.
So wurde sehr schnell die Forderung laut, diesem Personenkreis
- unbürokratisch,
- anonym,
- und über die ihnen bekannten Beratungsstellen oder dem Gesundheitsamt finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen – zumindest in Raten und in Höhe der Grundsicherung.
Diese Überlegungen haben wir sehr unterstützt. Wir haben das als einen Akt der Solidarität, der Menschlichkeit und als einen kleinen Ausgleich der allgemeinen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten verstanden. Was hätte das den Staat schon gekostet? Im Vergleich zu den gewaltigen Rettungspaketen für die Großkonzerne, die Unterstützung für die Medizin und die Wissenschaft?
Aber es kam, wie es immer kommt: „dafür steht kein Geld im Haushalt zur Verfügung, hier kann auch kein Geld umgewidmet werden, ja schade, aber wer keinen Anspruch auf Sozialleistungen hat, hat auch was falsch gemacht, ihnen stehen dann halt nur die Suppenküchen, die Tafeln, die Obdachlosenunterkünfte, das wenige angebotene Essen von Olga, Hilfe für Jungs, etc. zur Verfügung,“ – ja, Almosen, aber keine Hilfe für ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches, würdiges Leben!
Diese Entscheidung wurde vielerorts diskutiert und ja, nicht nur für Sexarbeiter*innen, sondern z. B. auch für Obdachlose abgelehnt, und sie hat die Leistungen von Sexarbeiter*innen für die Gesellschaft und für diesen Staat völlig aus dem Auge. Auch sie haben Steuern bezahlt, vielleicht in Form der Pauschalsteuer, haben Mehrwertsteuer bei jedem Einkauf von Lebensmitteln, etc. bezahlt, sind systemrelevant, weil sie ihren Kunden wertvolle Dienste leisteten, wodurch diese ihr tägliches Leben, die Arbeit und die Familie bessern meistern konnten.
Und sie sind doch in erster Linie Opfer des Raubtier-Kapitalismus, der globalen Ungerechtigkeiten und Ausbeutungen und der Armut in ihren Heimatländern, dem sie meist nichts anderes entgegen setzen konnten, als u. a. nach Deutschland zu gehen, wie die unzähligen Ärzte, Pflegekräfte, Erntehelfer und Helfer in den Fleischindustrie.
Ja, Corona macht deutlich:
auf unsere billigen Arbeitskräfte wollen wir dann doch nicht verzichten, auch soll unser Spargel und die Erdbeeren preiswert bleiben, DIE sollen schon für einen Stundenlohn arbeiten, den wir für uns grundsätzlich ablehnen, wie auch die miserablen Arbeitsbedingungen. Für DIE werden nach Protest der Verbände neue Rettungsschirme gespannt. Aber die Sexarbeiter*innen gehen dabei leer aus und können gucken, wo sie bleiben.
Diese strukturellen Fragen sind längst bekannt, sind schon vielfach vorgetragen worden und münden immer wieder in die gleichen Forderungen:
– bedingungsloses Grundeinkommen für Alle,
– Zugang zum medizinischen System für Alle,
– die Anerkennung von Sexarbeit als gleichberechtigte Erwerbstätigkeit wie die anderen und die Beseitigung aller diskriminierender Gesetze und
– die sofortige Einrichtung eines Rettungsschirms für alle Betroffenen.
Denn die Unterstützung mancher BordellbetreiberInnen im Weitergewähren von Wohnraum und Geld für Essen und Trinken, die neuen Eigeninitiativen wie z. B. dem Nothilfefonds vom besd und Nicole/Trier für die Straßenfrauen werden nicht ausreichen!
Und auf keinen Fall kann eine anklagende, voyeuristische Presseberichterstattung über Sexarbeiter*innen, die trotz Corona-Verbot anschaffen gehen, akzeptiert werden ohne dass die Hintergründe und die Verantwortung der Gesellschaft beleuchtet wird und Lösungen für Sexarbeiter*innen in Not aufgezeigt werden.
Weitere Infos:
Der Spiegel, 11. 04. 2020, Auf Kosten der Frauen
Medibüros, Medinetze und NGOs fordern medizinische Versorgung für alle
Panorama, 07. 04. 2020, Corona ganz unten