Fred, der Betreiber der Eichhörnchen-Bar verdreht genervt die Augen. Es ist 9.44 Uhr und so früh lässt er sich nicht so gerne stören. Wozu auch? Wegen Corona wurde seine Bar von heute auf morgen geschlossen. Das bedeutet: keine Einnahmen – bei laufenden Kosten.
Er hat es auch nicht übers Herz gebracht, Betty, Natascha und Lilli vor die Tür zu setzen. Diese haben keine eigenen Wohnungen, konnten nicht mehr in ihre Heimatländer Bulgarien, Litauen und Ungarn zurückreisen und wohnten schon immer während ihrer kurzen Arbeits-Besuche in den schönen Zimmern unterm Dach.
Jetzt sitzen sie offensichtlich in der Küche und wie Betty im Telefonat deutlich macht, gibt es Stress: „Fred, du musst sofort in die Küche kommen. Hast du schon von dem unverschämten Brief von der angeblichen „Überlebenden“ und der sog. Trauma-Therapeutin gehört? Welche kruden Behauptungen sie aufstellen? Wir sollen alle Opfer sein! wir sollen gerettet werden? Das ist Quatsch und unverschämt! Die haben keine Ahnung von unserem Job, blähen eine Lüge nach der anderen raus und wollen jetzt durchsetzen, dass alle Bordelle nach der Corona-Krise nicht mehr aufmachen dürfen. Wir kämpfen ums Überleben und die nutzen die weltweite Krise für ihre eigenen Machtspielchen……Komm schnell. Die Mädels regen sich total auf. Es geht hier drunter und drüber.“
Betty legt auf und schon stürmt Sabrina rein. „Ich habe es Euch gesagt: die wollen uns vertreiben. Die Retter. Die Opferindustrie! Da geht es schon lange nicht mehr darum, was ich will und wofür ich für mich entschieden habe, sondern die wollen mir was aufdrücken, über mich bestimmen, als wenn ich eine Kleine, Blöde bin, die keinen Durchblick hat und „Mutti“ aufpassen muss. Aber ich bin Volljährig. Ich gehe schon so lange anschaffen, habe eine Menge erlebt, und gehe immer noch gern anschaffen. Ein anderer Beruf kommt für mich nicht in Frage. Ich will meine Freiheiten. Ich will mehr verdienen als andere Frauen in anderen Jobs verdienen. Und vor allen Dingen will ich selbst bestimmen. Ich brauche keinen Chef. Ich muss mit den Kunden klar kommen. Und die sind mir am ehrlichsten und fairsten. Früher bin ich auf die Straße gegangen und habe demonstriert für „Mein Bauch gehört mir“. Muss ich jetzt auf die Straße gehen und sagen: „Meine Muschi gehört mir“?
Natascha kann sich nicht mehr zurückhalten und krätscht dazwischen: „Diese blöden Votzen. Haben keine Ahnung. Puh, ich und Opfer!? Welch ein Quatsch. Ich bin sehr klug gewesen. Auf der Straße, wo ich angefangen habe, konnte ich schnell feststellen: das ist mir zu hart. Ich will es lieber gemütlich und bequem. Halt warm im Puff sitzen und hier auf die Kunden warten. Und die Kunden sind auch interessiert, woher ich komme und was mit meiner Familie ist. Ich brauche das Geld auch für meine Familie. Gönnen die mir das nicht? Soll ich arm sein? Haben sie was gegen uns Ausländer? Ist es vorbei mit der Toleranz in Deutschland und in Europa? Warum soll ich nicht die gleichen Rechte haben wie die Ärzte oder Altenpfleger? Die kommen auch nach Deutschland, weil sie hier mehr Perspektiven haben als zuhause. Wären die Preise für sexuelle Dienstleistungen in Litauen besser und die Arbeitsbedingungen in den Bars wie hier, ginge ich nach Hause zurück.“
Lilli mischt sich ein: „Keiner fragt uns. Wir können für uns selbst reden. Sollen sie doch die Kolleg*innen retten, die gerettet werden wollen. Habt ihr vielleicht gehört, dass sie jetzt in der Corona-Krise Geld an Sexarbeiter*innen auszahlen, die nicht mehr arbeiten gehen können und kein Geld von Staat bekommen? Was tun sie denn für die? Oder dass der Staat die Gesetze verbessert, dass wir in eine bezahlbare Krankenversicherung kommen oder eine bezahlbare Wohnung finden. Nee, aber unser Geld und unsere Steuern will man.“
„Die sind so beleidigend. Argumentieren unter der Gürtellinie. Sind respektlos. Votzen ist da noch ein harmloses Wort. ……………….“
„Die sind respektlos, diese Kackbratzen.
Die haben von uns und unserer Arbeit keine Ahnung, diese Schlampen.
Die sollen in die Kirche beten gehen, ich ficke lieber.
Für eine Therapeutin ist das unglaublich, sie sollte doch respektvoll sein. Wie kann sie denn von einer Klientin auf alle Sexarbeiter*innen schließen? Die hat ihren Beruf verfehlt. Setzen: 6.
Und wenn ich schon höre: Überlebende? Hat sie einen Krieg überstanden, eine schwere Krankheit oder eine Katastrophe?
Wie kann kann man 6 Jahre für einen Lover anschaffen gehen? Sind dann alle Frauen in Frauenhäuser auch Überlebende? Und müsste die Ehe dann nicht abgeschafft werden?
Wir sind keine Opfer. Wir entscheiden selbst. Wir lassen uns weder wie früher von den Männern noch heute von den sog. Feministinnen was vorschreiben. Das ist tiefstes Patriarchat.“
Jetzt wird es Fred zuviel: „Stopp. Stopp. Stopp.“ ruft er. „Ihr habt mit allem recht. Aber wir sind eine ordentliche Bar. Ihr seid anständige, respektierliche Huren. Auf deren Niveau wollen wir uns nicht herablassen. Jetzt holen wir alle mal tief Luft, beruhigen uns und dann schauen wir uns im einzelnen an, was die ProstitutionsgegnerInnen uns vorwerfen, pflücken das auseinander und antworten ihnen sachlich und ruhig. Verstanden?“