Wir sind traurig, wütend, enttäuscht: das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat einfach mit einem Standardbrief – ohne inhaltliche Begründung – den beiden Klägern und ihrem Rechtsanwalt nun mitgeteilt, dass die Verfassungsbeschwerde gegen die verschärfte Freierbestrafung in § 232a Abs. 6 Satz 2 StGB nicht angenommen wird.
D. h. schon an der ersten Hürde scheiterte die Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht hat sie einfach nicht „angenommen“.
Das höchste deutsche Gericht hat sich damit, wie schon bei der Verfassungsbeschwerde von Dona Carmen e.V. zum Prostituiertenschutzgesetz, zur Frage der sog. „Freierbestrafung“ inhaltlich nicht positioniert.
Kunden von Sexarbeiter*innen werden sich wohl erst einem Strafverfahren aussetzen müssen, um zu erfahren, ob sie leichtfertig die ausbeuterischen Strukturen bei der Inanspruchnahme sexueller Dienste verkannt haben. Dies ist ein unhaltbarer Zustand und verunsichert Kund*innen, Sexarbeiter*innen und auch Betreiber*innen gleichermaßen.
Gerade deshalb werden wir jetzt erst recht den Druck auf die Politik erhöhen, um die Rechte in der Sexarbeit für alle Beteiligten zu stärken und ein Verbot der Prostitution weiter zu bekämpfen.
Ausbeutung und Zwang verhindert man nicht mit Verboten, sondern mit klaren Gesetzen, ergebnisoffener Beratung und Aufklärung!
Anmerkung zum Urteil des SG Hannover vom 11. Juli 2022 S 58 U 134/18
Als sich Anfang des Jahres 2017 die damalige gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen Elisabeth Scharfenberg für die Finanzierung von Sexualassistenz in bestimmten Fällen aussprach, blies ihr ein Sturm der Entrüstung entgegen. Sozial- und Wohlfahrtsverbände, insbesondere aus kirchlichen Kreisen, hielten diese Forderung für nicht erforderlich. Der damalige Gesundheitsexperte der SPD-Fraktion Karl Lauterbach, heute Bundesgesundheitsminister, bezeichnete die Vorschläge als nicht praktikabel, sprach sich aber immerhin für mehr Intimität im Heim aus. Ihr Parteikollege, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, hielt die Forderung für geeignet, die Grünen endgültig als realitätsferne Spinner erscheinen zu lassen.[1] Die Position Scharfenbergs wurde in der überbordenden Medienberichterstattung fälschlicherweise auf die Formel SEX auf REZEPT reduziert.[2] Die Vielschichtigkeit des Themas blieb dabei oft auf der Strecke und die Schlagzeilen implizierten, Menschen mit Behinderungen bekämen vom Staat, den Krankenkassen, schlicht der restlichen Solidargemeinschaft ihre Bordellbesuche gesponsert. Diese populistische und auch (latent) behindertenfeindliche Sicht motivierte dann auch jene, die schon immer gegen Prostitution agitierten und ein Sex-Kauf-Verbot propagieren.[3] Die zuweilen rührend anmutenden Versuche, die Identität von Sexualassistenz und Prostitution nachzuweisen, sind eigentlich schon damals vergebene Liebesmüh gewesen. Denn dergleichen wurde von einigen Ausnahmen abgesehen, nie ernsthaft bestritten. Es gibt zwischen der „klassischen“ Sexarbeit und der Sexualassistenz große Schnittmengen. Die Sexualassistenz beschränkt sich jedoch in der Regel ausschließlich auf Kunden*innen mit körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigung und wird eher in deren Häuslichkeit in Anspruch genommen. Evident aber ist : es handelt es sich in vielen Fällen auch hier um sexuelle Handlungen, die gegen ein vorher vereinbartes Entgelt erbracht werden.
In der Konsequenz der Sex-Kauf-Gegner*innen war die Kritik an der finanziellen Förderung von Sexualassistenz daher aus deren Sicht folgerichtig. Wenn dabei aber offen behindertenfeindliche Töne angeschlagen werden, Menschen mit Behinderungen als argumentative Verfügungsmasse zum Beleg der eigenen These missbraucht, oder als bemitleidenswerte Opfer zur Befriedigung der vermeintlichen Sexindustrie instrumentalisiert werden, wird der diskursive Bogen weit überspannt. Als Beleg soll der Ausschnitt eines schon zitierten Beitrages der Sex-Verbots-Aktivistin Huschke Mau dienen:
Während also einerseits dem am Pflegenotstand (Einsamkeit, emotionale Verwahrlosung) und an weiteren Systemfehlern (fehlende Privatsphäre in den Einrichtungen, mangelnde Aufklärung geistig Behinderter, keine Inklusion etc.) krankenden alten, dementen, behinderten Männern ein Stündchen Ficken hingeklatscht wird, welches ihre Bedürfnisse verfehlt und allen weismacht, am System müsse nichts geändert werden, und während also alle zufrieden sind, dass diese Männer endlich „Ruhe geben“, obwohl man manchmal gar nicht genau weiß, was sie eigentlich wollen und ob sie das, was an ihnen vollzogen wird, ÜBERHAUPT wollen, konstituiert sich auf der anderen Seite eine Fraktion von behinderten Freiern, die Frauen dafür ausbilden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, die Inklusion als etwas verstehen, das ALLEN Männern die Teilnahme am Fleischmarkt Prostitution, am tabulosen Sex mit jungen Frauen, ermöglicht. Und einige Beratungsstellen wünschen sich, das in der Verfassung zu sehen. Da kommt Freude auf.
Aber solange die Interessen Behinderter, Alter und Dementer vorgeschoben werden können, wird es weiter möglich sein, hier einen neuen Markt zu eröffnen. Weil Sexualassistenz ja irgendwie viel besser ist als Prostitution. Ganzheitlicher. Achtsamer. Karitativer. Quasi Sex mit einer Sozialarbeiterin.[4]
Recht launig werden hier Themen vermengt, Gruppen gegeneinander ausgespielt und Vorurteile geschürt. Da steckt sehr wenig Kenntnis der Dinge im Detail und sehr viel Selbstgerechtigkeit drin in diesen Zeilen.
Nun hat aktuell das Sozialgericht Hannover einem behinderten Mann durch stattgebendes Urteil vom 11. Juli 2022 S 58 U 134/18 Leistungen für die Finanzierung „zertifizierter“ Sexualbegleiterinnen im Rahmen des Persönlichen Budgets zugesprochen. Bemerkenswert, dass die unterlegene Berufsgenossenschaft offenkundig den Erstantrag bewilligte und erst im Wiederholungsfall den Folgeantrag ablehnte und den Betreffenden zur Klage zwang. Bemerkenswert weiterhin, dass das Gericht den Begriff der sozialen Teilhabe weiterfasste als etwa das LSG Thüringen[5] oder das LSG Bayern[6] und ihn auch auf intime Kontakte zu Sexualbegleiterinnen anwendet. Zuvor war die Ansicht vertreten worden, die Förderung von Bordellbesuchen oder erotischen Massagen für Menschen mit Behinderungen dienen gerade nicht der sozialen Eingliederung, da sie regelmäßig in einem abgesonderten Intimbereich stattfinden. Nunmehr bezeichnet das Sozialgericht Hannover Sexualität als elementares Grundbedürfnis. Dies mag nicht nur Menschen mit Behinderungen, die weshalb auch immer keine endgeldlosen Sexualkontakte pflegen können, erfreuen. Die Argumentation des Sozialgerichts Hannover wertet auch die Tätigkeit von Sexualassistierenden, ja von Sexarbeitenden generell auf. Sie macht deutlich, auch ihre Tätigkeit ist akzeptierte gesellschaftliche Realität.
Doch wiederum treten dieselben Kritikerinnen mit identischen Argumentationsmustern auf den Plan. In dem Artikel der Welt vom 18. August 2022, der über das Urteil berichtet, werden neben der Vorsitzenden des BSD e.V., Stephanie Klee, die als aktive Sexualassistentin das Urteil begrüßt, auch wiederum Huschke Mau und die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier zitiert. Frau Breymaier ist auch im Vorstand des Vereins Sisters – Für den Ausstieg aus der Prostitution e.V. und ebenfalls eine entschiedene Sexarbeitsgegnerin. Huschke Mau befürchtet, die Entscheidung würde den Druck auf in der Prostitution stehende Frauen noch erhören, wenn es nun quasi für Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Sex gäbe, welches sie dann gerichtlich gegen die vermeintlichen Prostituierten durchsetzen könnten. Und die Abgeordnete Breymaier kritisiert, das Gericht habe mit seiner Entscheidung die gesellschaftliche Ansicht zementiert, die Befriedigung sexueller Bedürfnisse sei auch ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des anderen Sexualpartners durchsetzbar. Gerade von einer freigewählten Sozialdemokratin darf man mehr Ausgewogenheit und weniger Populismus, noch dazu im Gewand latenter Behindertenfeindlichkeit erwarten.
Keineswegs stellt die Entscheidung des Sozialgerichts Hannover Menschen mit Behinderungen einen Freibrief aus, nunmehr mit dem Richterspruch wedelnd lüstern über sexarbeitende Personen herfallen zu dürfen. Dies aber implizieren meiner Ansicht nach die Statements der Damen Mau und Breymaier. Ohnehin ist die Vorstellung vom zahlenden Kunden, der immer die volle Verfügungsgewalt über die sexarbeitende Person erlangt, nur weil er/sie das Geld hat, das Narrativ der Verbotsbefürwortenden. Mit der Realität hat dies in der immer wieder behaupteten Absolutheit, ungeachtet der vermeintlichen Erfahrungen Frau Mau`s, nichts zu tun. Das Prostitutionsgesetz aus dem Jahre 2001 war ganz bewusst so konzipiert, dass das vereinbarte Entgelt auch klageweise durchgesetzt werden konnte, nicht aber die sexuelle Handlung! Ein Umstand dessen Kenntnis man von einer ehemals als Prostituierte (Sexkaufgegner*innen lehnen den Begriff der Sexarbeit ab!) tätigen Aktivistin erwarten dürfte.
Und ganz nebenbei: Wieso wird immer nur bei der Inanspruchnahme sexueller Dienste gefragt, ob beispielsweise Menschen mit schwerer Behinderung oder Demenz das ÜBERHAUPT wollen? Bei anderen Verrichtungen wie waschen, anziehen, füttern, morgens wecken und zwar dann, wenn es der Pflegeplan gebietet, wird diese Frage nicht gestellt. Daran mal einige Gedanken zu verschwenden, wäre den Schweiß der Edlen wert. Jedenfalls eignet sich die aus meiner Sicht sehr begrüßenswerte, wenn gleich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht rechtskräftige Entscheidung des Sozialgerichts Hannover, wie auch das Thema Sexualassistenz nicht für populistische Agitation, sondern lädt zum offenen aber sachlichen Diskurs ein. Das war vor fünf Jahren schon so, und das gilt heute umso mehr!
Rechtsanwalt Martin Theben lebt und praktiziert in Berlin, er war von 1987-2004 selbst behindertenpolitisch aktiv und hat 2004 zum Prostitutionsgesetz promoviert. Er unterstützt die Kampagne SEXARBEIT IST ARBEIT – RESPEKT! und führt derzeit ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Verschärfung der Freierstrafbarkeit in § 232a Abs. 6 StGB
„Das heimliche Treiben der Männer & Justitias Macht“
Unsere Pressekonferenz anlässlich des Welthurentages und dem Start unserer neuen Kampagne bezüglich der Verschärfung der Freierbestrafung im § 232a Abs. 6 StGB fand diesmal im Artemis in Berlin statt. Diese rief viel Interesse bei den Medien sowie ein breites Medienecho hervor.
Hier findet Ihr eine Zusammenstellung aller bisher erschienenen Artikel. Wenn Ihr ebenfalls welche findet, die hier noch nicht aufgelistet sind, dann sendet uns diese doch bitte einfach zu.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, aber auch der SPD-Parteivorstand und andere wollen die Grund-Rechte von Sexarbeiter*innen extrem beschneiden und die Prostitutionsbranche deutlich mehr kontrollieren und beschneiden.
Dabei missachten alle, dass Verbote und Einschränkungen noch nie viel gebracht haben. Was es braucht, ist ein breiter Dialog, neue Ansätze und für tatsächliche Probleme konkrete, strukturelle Lösungen.
Prostitutionsgegner*innen, wozu zunehmend Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU und SPD gehören, behaupten, dass ein sog. Sexkauf-Verbot Menschenhandel in die Prostitution sowie Ausbeutung und Gewalt in der Prostitution verhindern würde. Ab 15. Oktober 2019 arbeitet dazu sogar ein parlamentarischer Arbeitskreis „Prostitution – wohin?“ im Bundestag. Dabei beziehen sie sich auf die angeblichen Erfahrungen mit dem schon seit 20 Jahren bestehenden sog. Schwedischen Modell.
Ja, in Schweden (und anderen Ländern) ist der „Kauf von sexuellen Dienstleistungen“ verboten. Die Kunden werden mit einem Bußgeld oder Gefängnis bestraft und ggf. werden der Arbeitgeber und die Ehefrau per Brief informiert. Sexarbeiter*innen dagegen werden nicht bestraft.
Die Folge dieser Regelungen ist, dass es keine geschützten Arbeitsplätze für Sexarbeiter*innen mehr gibt. Sie gehen Risiken ein, sie müssen sich mit Kunden an dunklen Ecken treffen, denn sie wollen und können den Job nicht aufgeben. Die Arbeit ist extrem unsicher, stressig und auch gefährlich geworden. Natürlich gibt es keine Alternativangebote für Sexarbeiter*innen, die aussteigen wollen.
Das Schwedische Modell hat eine Wolke des Schweigens über die Menschen ausgebreitet. Nur unter vorgehaltener Hand sind sie bereit, offen ihre Meinung zur Sexarbeit zu äußern.
Schauen wir uns solch ein Verbot mal aus einer anderen Perspektive an:
Bzgl. der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie (oder den Saisonarbeiten in der Landwirtschaft) schrecken immer mal wieder Medienberichterstattungen die breite Öffentlichkeit auf. Dann heißt es z. B: „katastrophale Arbeitsbedingungen, unhygienische Verhältnisse, unzureichende Arbeitskleidung, miese Bezahlung und sogar Betrug gegenüber dem Sozialstaat, weil keine Sozialabgaben abgeführt werden, sondern über Subunternehmen selbstständige Erwerbstätigkeiten unterstellt werden, etc. Schnell wird dann der Bogen zur Klima-Frage geschlagen, denn zu viel Fleischverzehr führe zur Belastung der Böden und zu Monokulturen, weil die Tiere mit Soja gefüttert werden müssen, etc.
Aber niemand käme auf die Idee, die Fleischindustrie oder das Fleisch essen an sich zu verbieten. Selbstverständlich werden Rahmenbedingungen festgelegt und die Einhaltung von Gesetzen gefordert. Und diese wird dann vom Staat überprüft.
Nur in der Sexindustrie wollen die Prostitutionsgegner*innen die Zwangskeule schwingen. Als wenn das den Sexarbeiter*innen überhaupt was Positives bringen würde!
Vor allem müssen einmal folgende Fragen gestellt werden: Würde die Bekämpfung des Menschenhandels an sich nicht die effektivere und gezieltere Herangehensweise sein, wenn man Menschenhandel bekämpfen will? Wäre es nicht sinnvoll, die Mafia, Clans und dahinterstehenden Organisationen zu bekämpfen und deren Strukturen und Infrastruktur zu zerschlagen, anstatt ein Teil der Menschen die deren Opfer sind zu stigmatisieren und deren Leben zu erschweren, ja sogar vielen von ihnen die Existenzgrundlage zu entziehen – die Opfer noch mehr zu Opfern zu machen, anstatt ihnen zu helfen?
Wir sagen: Only rights can stop the wrongs!
Vielfältige Studien bestätigen die Unsinnigkeit dieses Schwedischen Modells, das manches Mal auch Nordisches Modell genannt wird.
Pressespiegel zum Thema „Sexkaufverbot“.
Wir empfehlen auch zur weiteren Lektüre – die Liste wird kontinuierlich ergänzt:
02.03.2021 – Entschließungsantrag von CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/die Grünen gegen ein Sexkaufverbot und nach einer Anhörung von Experten im Ausschuss: NRW Entschließungsantrag 02.03.2021
24. Juni 2020 – Offener Brief des BufaS e.V. zum Sexkaufverbot
Der bufas e.V. ist ein Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter.
Stellungnahme deutscher Organisationen gegen das Sexkaufverbot (11/2019) (Deutsche Aidshilfe, Deutscher Frauenrat e.V., Deutscher Juristinnenbund e.V., Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., Dortmunder Mitternachtsmission e.V. – Beratungsstelle für Prostituierte, Ehemalige und Opfer von Menschenhandel, contra e.V. Kiel – Fachstelle gegen Frauenhandel in Schleswig-Holstein)