Zu allen möglichen Themen und besonders bei den heiklen lassen sich Politiker*innen und Behördenmitarbeiter*innen von die unterschiedlichsten Experten beraten, hören sie an, um aus den verschiedenen Berichten und Stellungnahmen dann politisches und rechtliches Handeln abzuleiten.
Der wohl bedeutendste Runde Tisch „Prostitution“ hat vor vielen Jahren in Nordrhein-Westfalen stattgefunden. Engagierte Politiker*innen und Behördenmitarbeiter*innen wollten über alle Aspekte der Sexarbeit von den unterschiedlichsten „Betroffenen“ informiert werden. Das heißt, es wurde jeweils zu Themen (wie z. B. Steuern, Baurecht, Gewerberecht, Segmente wie Bordelle, Straßenprostitution, Escort, Sexarbeit und Behinderung) Experten (wie z. B. Vertreter der jeweilig zuständigen Behörde, Sexarbeiter*innen, Bordellbetreiber*innen) eingeladen.
Ständige Mitglieder des Runden Tisches waren Vertreter*innen aller Fraktionen des Landtags NRW, Behördenvertreter*innen und NGO`s (wie z. B. Madonna e. V., Diakonie, SKF). Sie konnten Fragen stellen und auch Statements abgeben.
Weitere Runde Tische fanden statt in Hannover/Niedersachsen, Berlin und Baden-Württemberg, aber auch in einzelnen Kommunen.
Idealerweise begleitet ein Runder Tisch z. B. ein Gesetzgebungsverfahren, um die Erfahrungen und Forderungen aus der Praxis in politisches Handeln einfließen zu lassen.
Ein Runder Tisch „Prostitution“ bietet sich auf jeden Fall parallel zur Evaluation des ProstituiertenSchutzGesetzes an, um Politiker*innen und Behördenvertreter*innen zu informieren und allen Beteiligten einen rechtzeitigen und sachlichen Dialog anzubieten.
Jedes Jahr erinnern Sexarbeiter*innen an die spektakuläre Kirchenbesetzung der französischen Kolleg*innen 1975 in Lyon/Frankreich (https://bsd-ev.info/internationaler-hurentag-2-juni/) und machen in Aktionen und Demonstrationen auf die immer noch fehlende Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigen aufmerksam.
Die Coronapandemie hat besonders deutlich gemacht, wie unfair der Staat beim Thema Sexarbeit handelte: Prostitution war z. T. verboten und die Bordelle waren länger geschlossen als andere Branchen. Es entstand z. T. große Not und Abhängigkeiten. Bis heute hat sich die Branche nicht von diesen Benachteiligungen erholt.
Hinzu gekommen sind die Folgen des Krieges in der Ukraine, die Energiekrise und die allgemeine Inflation.
Die Evaluierung des seit 2017 gültigen ProstituiertenSchutzGesetzes (ProstSchG) sollte eine Chance sein, endlich fundierte und überprüfbare Fakten und Daten zu bekommen – weg von Fehlinformationen, Klischees, Vorurteilen und von konservativen Werten geprägte Forderungen (https://bsd-ev.info/evaluation-des-prostschg/).
Sexarbeit ist Arbeit!
Es besteht hier dringender Änderungsbedarf!
Die regelmäßige gesundheitliche Pflicht-Beratung und Registrierung von Sexarbeiter*innen (z. T. ½ + jährlich) gehört abgeschafft.
Mindestanforderungen für die Prostitutionsstätten müssen je nach Größe und der Art des Betriebes gestaffelt werden.
Streichung der Baunutzungsgenehmigung für alle Altbetriebe, die vor dem 01. Juli 2017 bestanden, und Änderung der BauGesetze – weg von der typisierenden hin zu einer Einzelfall-Betrachtung.
§ 38 des ProstSchG legt fest, dass die „Auswirkungen dieses Gesetzes auf wissenschaftlicher Grundlage unter Einbeziehung der Erfahrungen der Anwendungspraxis und eines wissenschaftlichen Sachverständigen“ zu erfolgen hat. Diese Evaluation soll in der Zeit vom 01. Juli 2022 bis 01. Juli 2025 durchgeführt werden.
Im Sommer 2022 hat das Kriminologische Forschungsinstitut in Hannover mit der Evaluation des ProstSchG begonnen. Das Kriminologische Forschungsinstitut? Was hat Kriminologie mit Sexarbeit zu tun? Einer legalen Tätigkeit, der mit dem Prostituiertenschutzgesetz bürokratische Regeln auferlegt wurden – z. T. wie für andere Gewerbe im Gewerberecht?
Wird solch ein Institut die Veränderungen durch das Gesetz für alle Beteiligten der Branche überhaupt verstehen? Oder eher alles durch die besagte „kriminologische Brille“ betrachten?
Die Website des Instituts gibt einige Antworten. Darüber hinaus konnten wir in Erfahrung bringen, dass
Interviews mit Sexarbeiter*innen, Kunden und Bordellbetreiber*innen geplant sind – mit qualitativen und quantitativen Methoden,
neben Behördenmitarbeiter*innen und
Vertreter*innen des sog. Nordischen Modells,
„Fokusgruppen“ werden gebildet und befragt und
eine rechtliche Betrachtung des ProstSchG im Kontext des Strafrechts und des Baurechts soll vorgenommen werden.
Noch sind viele Fragen offen!
Leider hat die Evaluation des ProstG gezeigt, dass zwar viel geforscht und viel geschrieben wurde, aber die Politik keine Konsequenzen darauf zog. D. h. damals wurden z. B. nicht das Gewerberecht und das Baurecht geändert, obwohl schon klar war, das hier Änderungsbedarf bestand.
Wir werden die Evaluation des ProstSchG begleiten und fordern u. a. die Bundestagsabgeordneten und zuständigen Bundesministerien auf, parallel eine Expertenkommission (ähnlich einem Runden Tisch) einzurichten, um sich miteinander mit den einzelnen Abschnitten des ProstSchG zu beschäftigen und dann zügig nach der Vorlage der Evaluation gesetzliche Konsequenzen einzuleiten.
Natürlich müssen an dieser Expertenkommission auch Sexarbeiter*innen, Bordellbetreiber*innen, Kunden und deren Interessenvertretungen beteiligt sein. Denn nur die sind die wahren Experten!