Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte wird aktiv gegen sog. Nordische Modell
Heute hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasburg die Berufung gegen das französische Prostitutionsverbot zugelassen!
Worum geht’s?
261 Sexarbeitende hatten gegen das Prostitutionsverbot nach dem „Nordischen Modell“ geklagt. Dieses Modell ist dafür bekannt, dass Kunden von Sexarbeiter*innen kriminalisiert, also bestraft werden, wenn sie sexuelle Dienstleistungen kaufen, nicht aber die Sexarbeiter*innen. Doch die tragen auf jeden Fall die größeren Konsequenzen dieses Verbots, weil
- ihre sicheren Arbeitsplätze, die Bordelle geschlossen werden,
- Kunden wegbleiben wegen der befürchteten Bestrafung und Diffamierung,
- Sexarbeiter*innen ihre Kunden nicht mehr öffentlich treffen können und sich so für das „Stelldichein“ an unsichere Orte begeben müssen und so viel mehr Gefahren ausgesetzt sind,
- weil auch Fachberatungsstellen, Gesundheitsämter und Polizei keine Zugänge – auch nicht für Hilfsangebote – haben,
Das Gesetz hat verheerende Auswirkungen auf die Lebensgrundlage der Sexarbeiter*innen. Hinzu kommt ein Klima, dass Sexarbeiter*innen ihre Rechte und Schutz streitig macht. Toleranz und Integration in die Gesellschaft und Wirtschaftsordnung sieht anders aus! Das Nordische Modell wurde 2016 in Frankreich eingeführt.
Dagegen haben sich die 261 französischen Sexarbeiter*innen verschiedener Herkunft gewehrt. Sie wurden dabei von zahlreichen Organisationen unterstützt, wie z. B. Autres Regards, Centre LGBTQ+ Paris, Griselidis, Le Bus Des Femmes, Medecins du Monde, STRASS, etc.
Das Gericht erklärte in einer ersten Stellungnahme:
„Nach Angaben der Kläger*innen, die legal als Prostituierte arbeiten, hat die Kriminalisierung von Kund*innen der Prostitution Sexarbeitende in die Illegalität und Isolation gedrängt, sie einem erhöhten Risiko für ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben ausgesetzt und beeinträchtigt ihre Freiheit, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Privatleben leben möchten.“
Weiter fügte das Gericht hinzu:
“Sie verurteilen die Kriminalisierung des Kaufs sexueller Handlungen, die selbst mündige Erwachsene betrifft“.
Zahlreiche Organisationen wie Amnesty International und La Strada International, eine Menschenrechts-Organisation, begrüßten daraufhin diese Entscheidung. Auch die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht eines jeden auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit begrüßte die Entscheidung. Tlaleng Mofokeng warnte davor, dass die Kriminalisierung der Sexarbeit das Recht auf Gesundheit behindert, insbesondere für Sexarbeitende. “Sexarbeit ist Arbeit“. Weiter sagte sie:
„Ich hoffe, dass das zukünftige Urteil dieses Gesetzes durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf internationalen Menschenrechtsprinzipien und Standards beruhen wird“. […] „Die Kriminalisierung von Sexarbeiterinnen und die Bestrafung ihrer Kunden beeinträchtigt die Gesundheit der Sexarbeitenden und ihren Zugang zu Unterstützungsangeboten, was sich negativ auf ihre körperliche und geistige Gesundheit auswirkt, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit“, erklärte die UN-Expertin.
Weiter prangerte sie die „verengte Sichtweise an, die stereotype Vorstellungen über die Sexarbeit und die Sexarbeiterinnen hervorruft“, und betonte, dass Sexarbeiterinnen Gesundheitsbedürfnisse jenseits der HIV-Prävention oder -Behandlung haben, darunter Untersuchungen auf reproduktive Krebserkrankungen, Tests auf andere sexuell übertragbare Infektionen, Traumaberatung, Verhütungsmittel und sichere Abtreibungspflege.
In ihrer Stellungnahme bekräftigte Mofokeng, dass Staaten nach internationalem Menschenrecht verpflichtet sind, die Menschenrechte von Sexarbeitenden zu achten, zu schützen und zu verwirklichen, einschließlich ihres Rechts auf Privatsphäre, körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit der Person, das Recht, frei von Folter, grausamer und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu sein, und das Recht auf Autonomie und Freiheit vor rechtswidriger Einmischung.
„Sexarbeit sollte nicht mit Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung verwechselt werden“, betonte die Sonderberichterstatterin. „Die Annahme, dass alle Sexarbeitenden Opfer von Menschenhandel sind, leugnet die Autonomie und Handlungsfähigkeit von Menschen, die Sex verkaufen“, sagte sie.
Mofokeng drängte die Staaten, das Wohlergehen von Sexarbeiterinnen im Einklang mit ihren Menschenrechtsverpflichtungen zu bringen, indem sie ihre Rechte auf Diskriminierungsfreiheit, das Recht auf Gesundheit, das Recht, den Lebensunterhalt aus der Arbeit zu bestreiten, und sichere Arbeitsbedingungen sicherstellen.
Nun befasst sich also der europäische Gerichtshof mit all den Fragen und vielen Statements der Sexarbeiter*innen und der verschiedensten Organisationen.
Wir gratulieren den 261 Kläger*innen für den ersten Erfolg!
Weitere Infos
- Stellungnahme von Amnesty International
- Stellungnahme von La Strada International
- UN- Sonderbotschafterin
- France24
- Menschenhandel heute