Rechtsanwalt Dr. Theben kommentiert das Urteil des Sozialgerichts bzgl. Teilhabe

Rechtsanwalt Dr. Theben kommentiert das Urteil des Sozialgerichts bzgl. Teilhabe

Anmerkung zum Urteil des SG Hannover vom 11. Juli 2022 S 58 U 134/18

Als sich Anfang des Jahres 2017 die damalige gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen Elisabeth Scharfenberg für die Finanzierung von Sexualassistenz in bestimmten Fällen aussprach, blies ihr ein Sturm der Entrüstung entgegen. Sozial- und Wohlfahrtsverbände, insbesondere aus kirchlichen Kreisen, hielten diese Forderung für nicht erforderlich. Der damalige Gesundheitsexperte der SPD-Fraktion Karl Lauterbach, heute Bundesgesundheitsminister, bezeichnete die Vorschläge als nicht praktikabel, sprach sich aber immerhin für mehr Intimität im Heim aus.  Ihr Parteikollege, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, hielt die Forderung für geeignet, die Grünen endgültig als realitätsferne Spinner erscheinen zu lassen.[1] Die Position Scharfenbergs wurde in der überbordenden Medienberichterstattung fälschlicherweise auf die Formel SEX auf REZEPT reduziert.[2] Die Vielschichtigkeit des Themas blieb dabei oft auf der Strecke und die Schlagzeilen implizierten, Menschen mit Behinderungen bekämen vom Staat, den Krankenkassen, schlicht der restlichen Solidargemeinschaft ihre Bordellbesuche gesponsert. Diese populistische und auch (latent) behindertenfeindliche Sicht motivierte dann auch jene, die schon immer gegen Prostitution agitierten und ein Sex-Kauf-Verbot propagieren.[3] Die zuweilen rührend anmutenden Versuche, die Identität von Sexualassistenz und Prostitution nachzuweisen, sind eigentlich schon damals vergebene Liebesmüh gewesen. Denn dergleichen wurde von einigen Ausnahmen abgesehen, nie ernsthaft bestritten. Es gibt zwischen der „klassischen“ Sexarbeit und der Sexualassistenz große Schnittmengen. Die Sexualassistenz beschränkt sich jedoch in der Regel ausschließlich auf Kunden*innen mit körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigung und wird eher in deren Häuslichkeit in Anspruch genommen. Evident aber ist : es handelt es sich in vielen Fällen auch hier um sexuelle Handlungen, die gegen ein vorher vereinbartes Entgelt erbracht werden.

In der Konsequenz der Sex-Kauf-Gegner*innen war die Kritik an der finanziellen Förderung von Sexualassistenz daher aus deren Sicht folgerichtig. Wenn dabei aber offen behindertenfeindliche Töne angeschlagen werden, Menschen mit Behinderungen als argumentative Verfügungsmasse zum Beleg der eigenen These missbraucht, oder  als bemitleidenswerte Opfer zur Befriedigung der vermeintlichen Sexindustrie instrumentalisiert werden, wird der diskursive Bogen weit überspannt. Als Beleg soll der Ausschnitt eines schon zitierten Beitrages der Sex-Verbots-Aktivistin Huschke Mau dienen:

Während also einerseits dem am Pflegenotstand (Einsamkeit, emotionale Verwahrlosung) und an weiteren  Systemfehlern (fehlende Privatsphäre in den Einrichtungen, mangelnde Aufklärung geistig Behinderter, keine Inklusion etc.) krankenden alten, dementen, behinderten Männern ein Stündchen Ficken hingeklatscht wird, welches ihre Bedürfnisse verfehlt und allen weismacht, am System müsse nichts geändert werden, und während also alle zufrieden sind, dass diese Männer endlich „Ruhe geben“, obwohl man manchmal gar nicht genau weiß, was sie eigentlich wollen und ob sie das, was an ihnen vollzogen wird, ÜBERHAUPT wollen, konstituiert sich auf der anderen Seite eine Fraktion von behinderten Freiern, die Frauen dafür ausbilden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, die Inklusion als etwas verstehen, das ALLEN Männern die Teilnahme am Fleischmarkt Prostitution, am tabulosen Sex mit jungen Frauen, ermöglicht. Und einige Beratungsstellen wünschen sich, das in der Verfassung zu sehen. Da kommt Freude auf.

Aber solange die Interessen Behinderter, Alter und Dementer vorgeschoben werden können, wird es weiter möglich sein, hier einen neuen Markt zu eröffnen. Weil Sexualassistenz ja irgendwie viel besser ist als Prostitution. Ganzheitlicher. Achtsamer. Karitativer. Quasi Sex mit einer Sozialarbeiterin.[4]

Recht launig werden hier Themen vermengt, Gruppen gegeneinander ausgespielt und Vorurteile geschürt. Da steckt sehr wenig Kenntnis der Dinge im Detail und sehr viel Selbstgerechtigkeit drin in diesen Zeilen.

Nun hat aktuell das Sozialgericht Hannover einem behinderten Mann durch stattgebendes Urteil vom 11. Juli 2022 S 58 U 134/18  Leistungen für die Finanzierung „zertifizierter“ Sexualbegleiterinnen im Rahmen des Persönlichen Budgets zugesprochen. Bemerkenswert, dass die unterlegene Berufsgenossenschaft offenkundig den Erstantrag bewilligte und erst im Wiederholungsfall den Folgeantrag ablehnte und den Betreffenden zur Klage zwang. Bemerkenswert weiterhin, dass das Gericht den Begriff der sozialen Teilhabe weiterfasste als etwa das LSG Thüringen[5] oder das LSG Bayern[6] und ihn auch auf intime Kontakte zu Sexualbegleiterinnen anwendet. Zuvor war die Ansicht vertreten worden, die Förderung von Bordellbesuchen oder erotischen Massagen für Menschen mit Behinderungen dienen gerade nicht der sozialen Eingliederung, da sie regelmäßig in einem abgesonderten Intimbereich stattfinden. Nunmehr bezeichnet das Sozialgericht Hannover Sexualität als elementares Grundbedürfnis. Dies mag nicht nur Menschen mit Behinderungen, die weshalb auch immer keine endgeldlosen Sexualkontakte pflegen können, erfreuen. Die Argumentation des Sozialgerichts Hannover wertet auch die Tätigkeit von Sexualassistierenden, ja von Sexarbeitenden generell auf. Sie macht deutlich, auch ihre Tätigkeit ist akzeptierte gesellschaftliche Realität.

Doch wiederum treten dieselben Kritikerinnen mit identischen Argumentationsmustern auf den Plan. In dem Artikel der Welt vom 18. August 2022, der über das Urteil berichtet, werden neben der Vorsitzenden des BSD e.V., Stephanie Klee, die als aktive Sexualassistentin das Urteil begrüßt,  auch wiederum Huschke Mau und die SPD-Bundestagsabgeordnete Leni Breymaier zitiert. Frau Breymaier ist auch im Vorstand des Vereins Sisters – Für den Ausstieg aus der Prostitution  e.V. und ebenfalls eine entschiedene Sexarbeitsgegnerin. Huschke Mau befürchtet, die Entscheidung würde den Druck auf in der Prostitution stehende Frauen noch erhören, wenn es nun quasi für Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Sex gäbe, welches sie dann gerichtlich gegen die vermeintlichen Prostituierten durchsetzen könnten. Und die Abgeordnete Breymaier kritisiert, das Gericht habe mit seiner Entscheidung die gesellschaftliche Ansicht zementiert, die Befriedigung sexueller Bedürfnisse sei auch ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse des anderen Sexualpartners durchsetzbar. Gerade von einer freigewählten Sozialdemokratin darf man mehr Ausgewogenheit und weniger Populismus, noch dazu im Gewand latenter Behindertenfeindlichkeit erwarten.

Keineswegs stellt die Entscheidung des Sozialgerichts Hannover Menschen mit Behinderungen einen Freibrief aus, nunmehr mit dem Richterspruch wedelnd lüstern über sexarbeitende Personen herfallen zu dürfen. Dies aber implizieren meiner Ansicht nach die Statements der Damen Mau und Breymaier. Ohnehin ist die Vorstellung vom zahlenden Kunden, der immer die volle Verfügungsgewalt über die sexarbeitende Person erlangt, nur weil er/sie das Geld hat, das Narrativ der Verbotsbefürwortenden. Mit der Realität hat dies in der immer wieder behaupteten Absolutheit, ungeachtet der vermeintlichen Erfahrungen Frau Mau`s, nichts zu tun. Das Prostitutionsgesetz aus dem Jahre 2001 war ganz bewusst so konzipiert, dass das vereinbarte Entgelt auch klageweise durchgesetzt werden konnte, nicht aber die sexuelle Handlung! Ein Umstand dessen Kenntnis man von einer ehemals als Prostituierte (Sexkaufgegner*innen lehnen den Begriff der Sexarbeit ab!) tätigen Aktivistin erwarten dürfte.

Und ganz nebenbei: Wieso wird immer nur bei der Inanspruchnahme sexueller Dienste gefragt, ob beispielsweise Menschen mit schwerer Behinderung oder Demenz das ÜBERHAUPT wollen? Bei anderen Verrichtungen wie waschen, anziehen, füttern, morgens wecken und zwar dann, wenn es der Pflegeplan gebietet, wird diese Frage nicht gestellt. Daran mal einige Gedanken zu verschwenden, wäre den Schweiß der Edlen wert. Jedenfalls eignet sich die aus meiner Sicht sehr begrüßenswerte, wenn gleich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht rechtskräftige  Entscheidung des Sozialgerichts Hannover, wie auch das Thema Sexualassistenz nicht für populistische Agitation, sondern lädt zum offenen aber sachlichen Diskurs ein. Das war vor fünf Jahren schon so, und das gilt heute umso mehr!

Rechtsanwalt Martin Theben lebt und praktiziert in Berlin, er war von 1987-2004 selbst behindertenpolitisch aktiv und hat 2004 zum Prostitutionsgesetz promoviert. Er unterstützt die Kampagne SEXARBEIT IST ARBEIT – RESPEKT! und führt derzeit ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Verschärfung der Freierstrafbarkeit in § 232a Abs. 6 StGB

Dr. Martin Theben
Kuglerstr. 22
10439 Berlin
Email: m.theben@dr-theben

[1] Forderung Der Grünen: Sex auf Rezept stößt auf wenig Gegenliebe (nwzonline.de)

[2] Vorstoß zu Sex auf Rezept für Pflegebedürftige stößt auf Kritik (aerzteblatt.de); Grünen-Vorstoß – Sex für Pflegebedürftige auf Rezept – tatsächlich? | deutschlandfunk.de; Sexualassistenz: Grüne fordern Sex auf Rezept für Pflegebedürftige | ZEIT ONLINE

[3] „Sexualassistenz“: Wolf im Schafspelz! | EMMA; Warum Sexualassistenz auch nur Prostitution ist – Die Störenfriedas (stoerenfriedas.de)

[4] Aao.

[5] Beschluss > L 1 SO 619/08 ER | Thüringer LSG – Staat zahlt nicht für Hausbesuche von Prostituierten < kostenlose-urteile.de

[6] L 8 SO 163/17 | Sozialgerichtsbarkeit Bundesrepublik Deutschland

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