Der Bundesvorstand von SPDqueer hat sich in seiner Sitzung deutlich gegen das sog. Nordische Modell ausgesprochen und tritt für die Rechte und Respekt von Sexarbeiter*innen ein.
Das Positionspapier zeigt, wie intensiv SPDqueer sich mit den Fragen der Sexarbeit auseinandergesetzt hat und zwar in einer bemerkenswerten sachlichen Form und rechtebasiert. Das Positionspapier verdient Lob und breite Aufmerksamkeit:
„Berlin, den 27. März 2024
Sexarbeiter*innen in die Mitte der Gesellschaft holen, statt sie weiter an den Rand zu drängen. Sexarbeit ist seit Jahrtausenden gesellschaftliche Realität. Die Lebensrealitäten und Beweggründe von Sexarbeiter*innen sind zwar äußerst vielfältig, lassen sich aber als eine Tauschbeziehung von sexuellen Dienstleistungen unterschiedlicher Art gegen finanzielle oder andere materielle Vergütung fassen. Sexarbeit ist insofern zunächst ein Geschäft wie jede andere Erwerbsarbeit: Auf der einen Seite besteht eine Nachfrage nach solchen Dienstleistungen, auf der anderen Seite gibt es ein Angebot.
Allerdings ist diese Form der Erwerbsarbeit seit Jahrtausenden verpönt und mit einem erheblichen gesellschaftlichen Stigma (sogenanntes „Hurenstigma“) belegt: Im Unterschied beispielsweise zu Männern, die in der Kohleindustrie ihre Muskelkraft gegen finanzielle Vergütung tauschen, gelten Sexarbeiter*innen als schmutzig und anrüchig. Bereits seit Jahrhunderten liegen Bordelle am Rand des Geschehens, in den dunklen Gassen, die man ungern betritt. Mit Sexarbeiter*innen möchte man nicht gesehen werden.
In der Sexarbeit waren noch nie nur cis Frauen tätig. Auch für queere Menschen war und ist sie immer auch eine Möglichkeit (gewesen), Geld zu verdienen. Zumal, wenn sie aufgrund ganz eigener Diskriminierungserfahrungen Schwierigkeiten in anderen Beschäftigungsverhältnissen hatten oder haben. Dennoch liegt auf der Hand, einen Zusammenhang zum allgemeinen Ruf weiblicher Lust zu sehen und damit in die Tiefen der Psyche einzutauchen. Denn während der Archetyp des Männlichen als erobernd gilt, als forschend, kämpfend und schaffend, gilt der Archetyp des Weiblichen als einfühlsam, befriedend, nährend. Die „unbefleckte“ Heilige. Eine Frau mit eigener Sexualität, mit eigener Lust löst unterbewusst eine tiefsitzende Angst aus. Allein der Gedanke an sexuell starke Frauen fühlt sich für viele Menschen unterbewusst an wie das Überschreiten einer Art Grenze, die unwiederbringlich ins Verderben führt. „Kastrationsangst“ nannte Freud dieses Phänomen im Zusammenhang mit seiner wenig
glücklichen Theorie des Ödipuskomplex. Und passenderweise gilt als Verkehrung des weiblichen Archetyps ins absolut Schlechte, Bedrohliche auch die „Hure“.
Unser gesellschaftliches Verhältnis zu Sexarbeit ist also geprägt von Projektionen und Übertragungen. Oder anders formuliert: Wir stigmatisieren Sexarbeit, weil sie uns mit ungeklärten und zutiefst beängstigenden Fragen in uns selbst konfrontiert. Dabei gilt doch: Alles Übel geht vom Stigma aus. Stigma führt dazu, dass Sexarbeiter*innen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Dass sie nicht vollumfänglich am Leben teilhaben können. Dass über sie hinweg entschieden wird. Dass sie isoliert und damit anfälliger für Depression und andere psychische Erkrankungen sind. Dass sie leichte Ziele für Menschen mit kriminellen Absichten werden.
In Deutschland wurden seit 2001 erste gesetzgeberische Schritte gegangen, die dieser Erkenntnis folgen. Damals wurde das sogenannte „Prostitutionsgesetz“ eingeführt, mit dem Sexarbeit nicht mehr als Sittenwidrigkeit verfolgt wurde. Seitdem läuft jedoch eine Debatte, die wenig mit dieser simplen Erkenntnis zu tun hat: Einige fordern mehr staatliche Kontrollen, damit Deutschland nicht zum „Bordell Europas“ werde. Sie haben sich letztlich auch durchgesetzt, als 2016 als Nachfolge das sogenannte „Prostituiertenschutzgesetz“ verabschiedet wurde. Andere fordern allgemein die Kriminalisierung von Menschen, die für Sex bezahlen (das sogenannte „Nordische Modell“ erhält aktuell zunehmend Zuspruch), weil sie Sexarbeit in jedem Fall als Gewalt an Frauen sehen. Bis zum Jahr 2025 soll das aktuell gültige Gesetz evaluiert werden, danach wird sich gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergeben.
Mit dem vorliegenden Papier möchten wir als Bundesvorstand der SPDqueer unseren Beitrag zur Debatte leisten. Wir bemühen uns, ihr möglichst umfassend gerecht zu werde
- Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, das Selbstbestimmungsrecht von Sexarbeiter*innen zu respektieren und fordern, ihre Stimmen maßgeblich in den Diskurs und in Entscheidungsprozesse einzubinden. Grob vereinfacht lassen sich im Gespräch mit Sexarbeiter*innen vier sich durchaus überlappende Motive für diese Tätigkeit erkennen: Es gibt Menschen, die aus voller Überzeugung und aus einer tiefen Verbundenheit mit sich und ihrer Sexualität in diesem Bereich tätig sind. Es gibt Menschen, für die Sexarbeit schlicht ein Job mit besonderer Flexibilität ist, der je nach Umständen (Arbeitsbedingungen, Kolleg*innen, aktueller Verdienst etc.) so okay und selbstbestimmt ist, wie Erwerbsarbeit im Kapitalismus eben sein kann. Es gibt Menschen, die in der Sexarbeit sind, weil sie in anderen Branchen zu stark diskriminiert werden oder anderweitig in einer Notlage sind. Und es gibt Menschen, die Opfer von Zwangsprostitution sind (dazu unten mehr). Um es deutlich zu sagen: Es gibt keine Gruppe in der Sexarbeit, deren Selbstbestimmungsrecht legitimerweise eingeschränkt werden darf – auch nicht „um sie vor sich selbst zu schützen“. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer maximalen Auslegung dieses Grundsatzes geurteilt, dass Menschen sogar ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben haben. Es ist vielmehr an uns als Gesellschaft, einen souveränen Umgang mit Sexarbeit zu lernen: Wir müssen dringend beginnen, Sexarbeiter*innen auf Augenhöhe zu begegnen. Wir müssen ihnen zuhören, wenn wir über das Thema Sexarbeit sprechen wollen. Wir müssen ihnen Expertise zu ihrer Lebensrealität zuschreiben, wie wir jedem Anwalt vertrauen, dass er für sich und seine Zunft sprechen kann. In der Gesetzgebung müssen wir ihre vielfältigen Lebensrealitäten und Bedarfe zu Wort kommen lassen. Wir müssen dem Stigma entgegentreten. Und bei all dem müssen wir unsere eigenen, unterbewussten Ängste und Projektionen auf Sexarbeit und Lust verstehen lernen. Denn aufrichtiges und unvoreingenommenes Zuhören funktioniert nur ohne Projektionen.
- Wir erkennen an, dass es auch Menschen gibt, die von Zwangsprostitution betroffen sind. „Einfachen Antworten“ halten wir jedoch entschieden die Komplexität der Realität entgegen. Sexarbeit ist an den Rand der Gesellschaft gedrängt und weitgehend abgeschnitten vom gesellschaftlichen Leben. Sie ist also prädestiniert für Begleitkriminalität. Insofern ist keineswegs verwunderlich, dass auch zahlreiche Menschen von Zwangsprostitution betroffen sind. Diese Lebensrealität ist schwer vorstellbar und schwer zu ertragen. Und wir stehen ohne jede Diskussion hinter der staatlichen Verfolgung von Menschen und Strukturen, die andere Menschen in Prostitution zwingen (§ 232a StGB) oder sich an Menschenhandel beteiligen (§ 232 StGB). Die Frage ist aber: Wie kann man die davon betroffenen am besten vor Gewalt und Ausbeutung schützen? Wir verwehren uns entschieden gegen den als „Nordisches Modell“ bekannten Vorschlag, Menschen zu kriminalisieren, die Sexarbeit in Anspruch nehmen. Wir sehen die Verlockung der Illusion einer besseren Gesellschaft durch ein schlichtes Verbot (oder: Die Verlockung einfacher Antworten). Aber so einfach ist es nicht. Wie bei vielen vergleichbaren Phänomenen, führt eine Kriminalisierung eher zur Verdrängung in den Untergrund. Zur Verbannung in Räume völlig außerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Sexarbeit würde weiterhin stattfinden, wie auch Alkohol und Drogen immer konsumiert wurden und werden. Nur würde sie dann eben von Menschen in Anspruch genommen, die keinen Wert auf Regeln und Grenzen legen, und sie würde in Räumen geschehen, die von gesellschaftlichem Schutz völlig abgeschnitten sind: Im Untergrund gelten Gewalt und das Recht des Stärkeren. Sexarbeiter*innen wären erstrecht ausgeliefert. Außerdem zeigt die Realität in Ländern mit dem sogenannten „Nordischen Modell“ gerade, dass Sicherheitsbehörden im Zweifel eben doch die Personen kontrollieren und demütigen, die sie für Sexarbeiter*innen halten. Die offizielle Evaluation des schwedischen Gesetzes kommt jedenfalls folgerichtig zu dem Schluss: „For People who are still being exploited in prostitution, the above negative effects of the ban that they describe must be viewed as positive from the perspective that the purpose of the law is indeed to combat prostitution.”11 Um Menschen vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen, müssen wir also gerade das Gegenteil tun: Wir müssen das Stigma abbauen und Sexarbeit in die Mitte der Gesellschaft holen. Wir dürfen Sexarbeiter*innen nicht länger an den Rand drängen und damit von gesellschaftlichem Schutz abschneiden. Wir müssen ihnen auf Augenhöhe begegnen. Wir dürfen nicht Beruf mit Identität verwechseln und müssen den Menschen wohlwollend begegnen, wie jedem anderen auch. Denn nur, wer Empathie entgegengebracht bekommt, wird sich in Notlagen auch öffnen. Nur wer vertraut wird sich anvertrauen. Nur für wen man sich interessiert, der wird auch nach Hilfe fragen
- Wir treten entschieden gegen Stigmatisierung und Kriminalisierung ein. Stigmatisierung ist in jedem Fall kontraproduktiv und hilft ausschließlich Menschen, die sich von einem Teil der Realität abgrenzen möchten, sich vor ihm schämen oder gar fürchten. Insofern entlarvt sich auch jede Forderung, Sexarbeit zu kriminalisieren als unsouveräner Akt der Selbstverleugnung auf Kosten von anderen – und sei er auch getarnt als Schutz anderer vor sich selbst. Das ist entmündigend und führt bei den Stigmatisierten zu Ohnmacht, Isolation und Misstrauen. Bedauerlicherweise hat diese Form der Entmündigung auch in Deutschland Eingang in frühere Gesetzgebung und den institutionellen Umgang mit Sexarbeiterinnen gefunden: Durch Sondergesetze, wie beispielsweise Sperrzonenregelungen oder Registrierungspflichten, durch Anmeldepflichten, bauliche Vorschriften mit Blick auf Toilettenräume und durch zwangsweise regelmäßige „Gesundheitsberatungen“, zu denen die Sexarbeiterinnen auf dem Gesundheitsamt erscheinen müssen. Wir wenden uns entschieden gegen solche als „Schutz“ getarnten Zwangsmaßnahmen. Zwang und Stigmatisierung schützen Sexarbeiter*innen nicht, sondern die übrige Gesellschaft, die mit Sexarbeit lieber nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Sie schützen Sexarbeiter*innen nicht, sondern untergraben das Vertrauen in staatliche Institutionen und Hilfesysteme, die im Zweifel dringend benötigt werden.
- Wir fordern dringend bessere Angebote für Sexarbeiter*innen! Das bezieht sich auf medizinische, psychologische und community-basierte Angebote. Aber auch auf eine vertrauensvolle Ansprechbarkeit von Sicherheitsbehörden im Fall von Übergriffen. Wir halten einige Maßnahmen für essenziell, um Sexarbeiterinnen in die Mitte der Gesellschaft zu holen:
- Eine nachhaltige finanzielle Absicherung bedarfsgerechter Fachberatungs- und
Unterstützungsangebote (insbesondere mit Peer-to-Peer-Ansätzen), unabhängig davon, ob Sexarbeiter*innen weiterarbeiten oder den Beruf wechseln wollen. - Eine entstigmatisierende Informations- und Beratungspraxis mit niedrigschwelliger, mehrsprachiger und sensibler Ansprache unabhängig von Aufenthaltsstatus oder körperlichen Geschlechtsmerkmalen.
- Die Finanzierung und strukturelle Absicherung ausreichender Schutzunterkünfte für Betroffene von Gewalt, die auch Schutz für Sexarbeiter*innen gewährleisten.
- Aufklärung von Fachkräften an allen Schnittstellen der körperlichen und psychischen
Gesundheitsversorgung. - Eine Sensibilisierung, Fortbildung und Antidiskriminierungsarbeit zu
Sexarbeitsfeindlichkeit in Behörden und Ämtern. - Die Stärkung des Antidiskriminierungsschutzes (gerade auch mit Blick auf den Beruf) in allen Bereichen des alltäglichen Lebens: Im Gesundheitswesen, auf dem Wohnungsmarkt, in Behörden.
- Und wir halten insbesondere Sensibilisierungen und Fortbildungen bei Polizei und Justiz für essenziell. Nur so können Einsätze mit hohem Risiko von Polizeigewalt
(Durchsuchungen etc.) abgebaut werden. Aber vor allem können Sicherheitsbehörden nur auf diesem Wege zu Hilfestrukturen werden, an die Sexarbeiter*innen sich im Zweifel aufrichtig vertrauensvoll wenden – ohne Angst vor Schikane, Abschiebung oder davor, selbst für Gewalt verantwortlich gemacht zu werden.“
- Eine nachhaltige finanzielle Absicherung bedarfsgerechter Fachberatungs- und
SPD-Parteivorstand | SPDqueer
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Pressemeldung von SPDqueer
- “Selected extracts of the Swedish government report SOU 2010:49: The Ban against the Purchase of Sexual Services. An evaluation 1999-2008”; S. 34 ↩︎