Vortrag des belgischen Justizministers Herrn Vincent Van Quickenborne beim ESWA – European Sex Workers‘ Rights Alliance – Kongress 2022 im Europäischen Parlament, Brüssel, 13.10.2022:
„Jedes Land in Europa sollte Sexarbeit entkriminalisieren.“
Danke, Sophie, danke, meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen, dass ich heute hier sein darf, es ist ein ganz besonderer Anlass.
Ich möchte auch den Mitgliedern des Europäischen Parlaments danken, die heute hier anwesend sind. Sie sind aktiv an diesem Kampf beteiligt.
Mein Dank geht natürlich auch an Sie, Sophie, als heutige Präsidentin, an die Mitglieder der ESWA (Allianz für die Rechte der Sexarbeiter*innen), an die Doktorand*innen und Wissenschaftler*innen.
Zunächst einmal herzlich willkommen in Brüssel, im Herzen Belgiens, im Herzen Europas, aber auch in Belgien, dem ersten europäischen Land, das die Sexarbeit entkriminalisiert hat.
Ich begrüße diese Initiative, alle Sexarbeitenden zu versammeln, in welcher Form auch immer. Unabhängig von kulturellen oder gesellschaftlichen Normen ist und war es immer eine Gewissheit: Wo immer Menschen zusammenleben, gibt es Menschen, die sich dafür entschieden haben, Sexarbeiter*innen zu sein, und es gibt Menschen, die die von ihnen angebotenen Dienstleistungen nachfragen.
Was leider auch weltweit fast immer eine Gewissheit ist, ist die Scheinheiligkeit im Umgang mit der Sexarbeit.
Im besten Fall wird sie toleriert, bleibt aber verpönt und existiert in einer rechtlichen Grauzone. Im schlimmsten Fall verfolgen die Regierungen aktiv Menschen, die bloß das tun, was ein natürliches Geschehen zwischen einvernehmlich handelnden Erwachsenen ist. Bis vor kurzem bildete mein Land, Belgien, keine Ausnahme von dieser Regel. Über 27.000 Sexarbeitende sind in Belgien tätig. In Belgien wurde dies stillschweigend geduldet, unter den Teppich gekehrt in den Vierteln der Spediteure, versteckt hinter den Fassaden zwielichtiger Bars. Den Sexarbeiter*innen und ihren Kund*innen wurde der Eindruck vermittelt, dass man sich dafür schämen und nicht darüber sprechen sollte, so dass die Sexarbeiter*innen mit der sehr realen Gefahr von Missbrauch, Ausbeutung und Diskriminierung allein gelassen wurden. Sie waren nicht durch das Gesetz geschützt, ganz im Gegenteil.
Als ich vor zwei Jahren das Amt des belgischen Justizministers antrat, wollte ich, dass die Justiz schneller, humaner und effektiver wird. Und das ist der Ansatz, den wir bei der Gesetzgebung zur Sexarbeit verfolgt haben.
Erlauben Sie mir, das zu erklären: Das erste Prinzip ist schneller zu werden, was man durchaus wörtlich nehmen kann: Wir haben die Sexarbeit seit letztem Juni entkriminalisiert. Und es war keinen Moment zu früh. Die COVID19-Krise hatte einmal mehr die Schwierigkeiten der Sexarbeitenden aufgezeigt, die ohne Einkommen, ohne Arbeitslosengeld und ohne soziales Netz dastanden, während andere Berufe das alles hatten.
Mit der Einführung des neuen Sexualstrafrechts in unserem Land, das am 1. Juni in Kraft trat, wurde die Sexarbeit aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.
Und ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass der älteste Beruf der Welt, wie das Klischee besagt, nun der neueste geschützte Beruf in Belgien ist. Ich möchte UTSOPI, der belgischen Interessenvertretung der Sexarbeiter*innen, dafür danken, dass sie mit uns daran gearbeitet hat. Ihrem Rat ist es zu verdanken, dass wir uns nicht für die Legalisierung, sondern für die Entkriminalisierung von Sexarbeit entschieden haben. Denn die Entkriminalisierung sorgt dafür, dass selbständige Sexarbeitende einfach unter das normale Arbeitsrecht fallen. Die Legalisierung funktioniert unserer Meinung nach nicht, weil sie spezifische Regeln und Vorschriften für einen Sektor erfordert. Und so widersinnig es auch erscheinen mag, die Erfahrungen in anderen Ländern haben gezeigt, dass dies dazu führt, dass zu viele Sexarbeiter*innen in der Illegalität bleiben. Denn diese Regeln schaffen zusätzliche Hindernisse. Die Legalisierung, so gut sie in verschiedenen Ländern auch gemeint sein mag, beginnt auf dem falschen Fuß: Sie sagt den Sexarbeiter*innen, dass sie außerhalb der Legalität stehen. Aber wenn sie sich an bestimmte Regeln halten, können sie den Schutz unseres Gesetzes genießen. Die Entkriminalisierung hingegen kehrt dieses Paradigma um. Sexarbeiter*innen genießen immer den vollen Schutz des Gesetzes, es sind immer nur Missbrauch und Ausbeutung von Sexarbeiter*innen, die außerhalb des Gesetzes stehen.
Das bringt mich zum zweiten Leitprinzip: Die Justiz muss menschlicher werden. Wir haben die Arbeit von Sexarbeitern aus der Illegalität geholt und ihnen die gleichen sozialen Rechte wie allen anderen Erwerbstätigen in unserem Land gegeben. Wir geben ihnen die Anerkennung, die sie schon immer verdient haben: Das ist der einzig humane Ansatz.
Seit der Streichung der Sexarbeit aus dem Strafgesetzbuch können Sexarbeiter*innen in unserem Land endlich legale Verträge mit einer Bank, einem Steuerberater, einem Fahrer, einem Anwalt, einem Vermieter abschließen, denn nach dem alten Strafrecht liefen diese Personen, die ich erwähnt habe, formell Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden, weil sie Sexarbeit ermöglichten und davon profitierten.
Heute sind Sexarbeiter*innen geschützt, und sie können sexuelle Dienstleistungen auf selbständiger Basis anbieten. Das Gesetz sieht auch vor, dass Sexarbeiter*innen einen Arbeitsvertrag abschließen können. Aufgrund der Natur des belgischen Arbeitsrechts bedeutet dies aber, dass ein Sozialstatut für Sexarbeiter*innen als Arbeitnehmer*innen entwickelt werden muss, so wie es auch für jeden anderen Beruf notwendig ist.
Was ich will, ist die Transparenz der gleichen Rechte für Sexarbeiter*innen wie für alle anderen Arbeitnehmer*innen in unserem Land und in Europa, ein anständiger Lohn, eine Obergrenze für die Wochenarbeitszeit, Gewerkschaften, Streikrecht, Mutterschaftsurlaub und vieles mehr. Das sind alles Dinge, die für jeden anderen Arbeitnehmer in Belgien selbstverständlich sind, die es aber für Sexarbeiter*innen noch nicht gibt. Dies fällt in den Zuständigkeitsbereich meiner beiden Kollegen, des Arbeitsministers Pierre-Yves Dermagne von der Sozialistischen Partei und des Ministers für Selbstständige, David Clarinval von der frankophonen Liberalen Partei. Und beide haben meine volle Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Vorhabens.
Ende dieses Monats werden sich unsere Kabinette dazu erneut treffen. Mit Ihrem Druck und Ihrem Tempo sollte dies natürlich so schnell wie möglich realisiert werden. Natürlich bin ich gespannt auf Ihre Empfehlungen zum Sozialstatut für SexarbeiterInnen, das ist mir wichtig.
Und dann der dritte Grundsatz, eine Justiz, die effektiver wird:
80 % der Sexarbeiterinnen in Belgien tun dies aus freien Stücken – 80 %, 80 %!
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass einige Frauen und manchmal auch Männer zur Sexarbeit gezwungen werden. Denken Sie an die Opfer des Menschenhandels oder an Minderjährige. Aus diesem Grund stellt das neue Strafgesetzbuch den Missbrauch und die Ausbeutung von Sexarbeit, die Arbeit von Minderjährigen und die erzwungene Sexarbeit (Zwangsprostitution) klar als Straftaten dar. Glücklicherweise macht die Entkriminalisierung unsere Gesetze effektiver bei der Verfolgung von Personen, die Sexarbeiter*innen ausbeuten. Durch die Beseitigung der Grauzone wird die Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß klarer. Und Straftaten wie Missbrauch, Menschenhandel und Prostitution von Minderjährigen lassen sich viel leichter aufdecken und geben den Opfern, unseren Zeugen, die Möglichkeit, diese Verbrechen anzuzeigen.
Das haben wir in Neuseeland erlebt, denn als die Sexarbeiter*innen entkriminalisiert wurden, hatten sie den Mut, sich an die Polizei zu wenden, und die Polizei in Neuseeland ist heute Partner der Sexarbeiterinnen. … Wir haben der föderalen Polizei in unserem Land mehr Polizisten zur Verfügung gestellt, speziell für diesen Zweck. Wir haben zusätzliche Mittel für die drei Zentren bereitgestellt, die Opfern von Missbrauch in der Sexarbeit helfen und sie beherbergen. Denn die Grauzone ist der Ort, an dem sich Kriminelle wohlfühlen. Und indem wir Sexarbeiter*innen, die sich für diesen Beruf entscheiden, als freie Erwachsene anerkennen und respektieren, können wir gegen die Kriminellen vorgehen, die Sexarbeiter*innen ausbeuten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz klar sagen: Jedes Land in Europa sollte Sexarbeit entkriminalisieren.
In jedem Land in Europa und in jedem Land der Welt gibt es Tausende und Abertausende von Sexarbeiter*innen. Gesetze, die sie in Gefahr bringen, Gesetze, die ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie sich dafür schämen müssen, wer sie sind, haben in einer zivilisierten Gesellschaft nichts zu suchen. Sexarbeiter*innen sind Menschen mit ganz normalen und erfüllenden Berufen, sie verdienen überall gleichen Schutz. Lassen Sie uns diese Botschaft in der ganzen Welt verbreiten, angefangen bei der Europäischen Union. Deshalb ist dieses Europäische Parlament vielleicht der geeignetste Ort dafür. Ich fordere hiermit alle hier anwesenden Abgeordneten auf, dieses Anliegen nachdrücklich zu unterstützen, damit die Europäische Union ein Ort sein kann, an dem Sexarbeiter*innen erhobenen Hauptes dastehen und stolz darauf sein können, wer sie sind, ohne eine Strafverfolgung fürchten zu müssen und den vollen Schutz des Gesetzes genießen. Ich bin sicher, dass dieser Tag kommen wird. Und Sie können sich darauf verlassen, dass ich dafür sorge, dass er eher früher als später kommt. Ich danke Ihnen!
Nachfrage von Sophie Int’l Veld:
Ich danke Ihnen vielmals. Ich denke, der Beifall sagt alles. Ich denke, der belgische Ansatz ist in jeder Hinsicht vorbildlich. Ich freue mich auch sehr darüber, dass dieser ganze Prozess in sehr enger Absprache mit den Betroffenen durchgeführt worden ist. Denn das ist eines der Dinge, die mich immer stören: wenn man über Sexarbeiter*innen spricht, dann spricht man *über* Sexarbeiter*innen; ich sage immer, warum sprechen wir nicht *mit* ihnen? Die Leute können selber sagen, was sie brauchen, was sie wollen, sie können ihre Ansichten kundtun, wie Sabrina es schon sehr eloquent getan hat. Und Sie haben auch die Heuchelei erwähnt: Gerade in diesen Tagen ist es unerträglich, dass die gleichen Leute, die meinen, dass Sexarbeit kriminalisiert werden sollte, es für in Ordnung halten, mit dem Kriegsverbrecher im Kreml Geschäfte zu machen. (Beifall.) Ich meine, wenn es einen echten Verbrecher gibt, wer von beiden ist dann wirklich unmoralisch? Okay, vielen Dank für diesen Beitrag.
Vincent Van Quickenborne:
Ich muss jetzt ins belgische Parlament …
Sophie Int’l Veld:
Sie müssen ins belgische Parlament gehen, ok, aber ich denke, wir verzeihen Ihnen, denn Ihr Beitrag war großartig, und ich denke, Sie können auf unsere Unterstützung zählen. Ich meine, seien wir ehrlich: Es liegt noch ein langer Weg vor uns, auch im Europäischen Parlament. Aber wenn ich mir die heutige Veranstaltung anschaue und sie mit der allerersten vergleiche, die wir vor vielen Jahren zu diesem Thema organisiert haben, als wir eine sehr kleine Gruppe von Leuten hatten und viel Kritik einstecken mussten, dann hat sich etwas verändert. Und ich denke, Sie haben bewiesen, dass es sich ändern kann. Belgien geht mit gutem Beispiel voran, und wir werden unser Möglichstes tun, um sicherzustellen, dass andere Teile Europas folgen werden.
Vincent Van Quickenborne:
Gibt es Pläne für eine europäische Resolution, die eine Entkriminalisierung der Sexarbeit in Europa fordert?
Sophie Int’l Veld:
Nun, es gibt Pläne für eine Resolution, und wenn es nach uns geht, dann wird sie eine Entkriminalisierung fordern. Wir werden sehr, sehr hart arbeiten, um eine Mehrheit zu bekommen, aber es wird ein heiß umstrittenes Thema sein, da bin ich mir sicher.
Vincent Van Quickenborne:
Glauben Sie nicht, dass es im Europäischen Parlament eine Mehrheit für dieses Anliegen geben könnte? Nein?
Sophie Int’l Veld:
Wenn Sie uns heute fragen … aber wir werden mit jedem einzelnen unserer Kollegen sprechen und versuchen, sie zu überzeugen. Wie ich schon sagte: Sie wissen, dass wir vor langer Zeit angefangen haben, und damals war das Thema tabu. Jetzt haben wir einen Raum voller Menschen, wir haben vier verschiedene Fraktionen aus dem Europäischen Parlament hier vertreten. Die Zeit wird kommen und wir werden es so schnell wie möglich tun.
Vincent Van Quickenborne:
Nun, wenn Belgien Anfang 2024 Präsident des Europäischen Rates sein wird, habe ich als Justizminister jedenfalls vor, das auf die Tagesordnung eines informellen Rates zu bringen, zum ersten Mal.
Sophie Int’l Veld:
Wow! (Großer Beifall.)
Vincent Van Quickenborne:
Ich werde meine Amtskollegen, und es sind insgesamt 27, aus allen europäischen Ländern, bitten, vorzutreten und laut und deutlich zu sagen, was sie darüber denken. Denn ich bin überzeugt, dass viele von ihnen, nicht alle, aber viele von ihnen, diese Initiative begrüßen werden, wenn sie persönlich mit ihnen sprechen, dessen bin ich mir sicher. Lassen Sie uns also diese Bewegung aus dem Europäischen Parlament heraus starten, um alle europäischen Länder zu überzeugen, sich zu ändern und das zu tun, was wir tun. Ich danke Ihnen!
Belgien will sich europaweit für die Entkriminalisierung von Sexarbeit einsetzen!
Originalaufnahme -> ab ca. 1Std 57 -> https://www.youtube.com/watch?v=s8mrc3ibHHs