Berufsgenossenschaft muss Sexualassistenz bezahlen

Hinter diesem Urteil verbirgt sich eine bemerkenswerte Rechtsprechung und Haltung!

Das Sozialgericht in Hannover (Urt. v. 11.07.2022, Az. S 58 U 134/18) hatte über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

Der 1983 geborene Kläger (also heute knapp 40-jähriger Mann) hatte im Dezember 2003 auf dem Heimweg von seinem Ausbildungsort einen Verkehrsunfall. Dabei erlitt er schwere Verletzungen und ist seitdem hilfebedürftig im Alltag, z. B.  beim An- und Ausziehen, bei der Körperpflege und Nahrungsaufnahme.

Der Unfall wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Zuständig ist somit die Berufsgenossenschaft, die auch eine Verletztenrente zahlt. Gleichzeitig schlossen beide einen sog. Budgetvertrag ab, der ein persönliches Budget für Sexualbegleitung (durch zertifizierte Dienstleisterinnen) beinhaltet. Die Berufsgenossenschaft lehnte den Folgeantrag ab und begründete dies damit, dass „die Befriedigung des Sexualtriebs nicht zur Heilbehandlung oder Pflege zähle. Es gehe auch nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch Prostituierte diese nicht ermögliche.“

Das Sozialgericht sah das anders und verurteilte die Berufsgenossenschaft, wie bisher die Kosten der Sexualassistentin zu zahlen.

Teilhabe umfasse auch seelisches Befinden

„Leistungen zur sozialen Teilhabe nach § 39 Sozialgesetzbuch (SGB) VII beschränkten sich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung des täglichen Lebens bereitzustellen. Sie sollten auch das seelische Befinden verbessern und das Selbstbewusstsein des Behinderten verbessern. Sexuelle Bedürfnisse zählten zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und könnten daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen, nämlich für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden. Selbstbestimmte Sexualität sei daher die Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe.

Aus rechtlicher Sicht sind folgende Aspekte hervorzuheben:

  • Zur sozialen Teilhabe gehören nicht nur Kontakte zur Außenwelt oder Hilfsmittel zur Bewältigung des täglichen Lebens. Teilhabe umfasst auch das seelische Befinden.
  • Teilhabe soll auch das seelische Befinden und das Selbstbewusstsein des Behinderten verbessern.
  • Sexuelle Bedürfnisse zählten zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und könnten daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen, nämlich für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden.
  • Selbstbestimmte Sexualität ist Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe.

Wir begrüßen
dieses Urteil sehr. Es stellt endlich die Bedeutung von Sexualität klar heraus. Wenn es sich hier auch um einen „Sonderfall“ handelt – ein nach einem Unfall behinderter Mann und die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaft – , so bestätigt das Urteil doch, was wir Menschen (fast) alle wissen und immer wieder erfahren: Sexualität hält fit und macht gesund, stellt eine enorme Ressource dar und ist wichtig für die Persönlichkeit und das Befinden.

Wo und wie Menschen ihre Sexualität ausleben, entscheiden sie selbst, also mit einem (oder mehreren) Partner*in in einer Beziehung, mit wechselnden Sexualpartnern, anonym oder auch in der Sexarbeit – mit einer Sexarbeiter*innen/einer Sexualassistentin privat oder im Bordell oder in einer Einrichtung.
Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen einer Sexarbeiter*in an sich und einer Sexualassistentin. Das Berufsfeld ist darüber hinaus noch vielschichtiger: zu nennen wären  noch Straßen-Sexarbeiter*innen, Escortdamen, Bardamen, Dominas, etc. Das Verbindende sind die sexuellen Dienstleistungen.

Wir hoffen,
dass dieses Urteil breit veröffentlicht wird und dass es Alle zu ihrem Gewinn und einer befriedigenden Sexualität nutzen.

Wir sagen:
es gibt ein Recht auf Sexualität!

Presse:

Der Tagesspiegel, 20. 08. 2022

Die Welt, 18. 08. 2022: Recht auf Sex_ Berufsgenossenschaft muss Sexualassistentin bezahlen – WELT

Der Spiegel: spiegel.de/karriere/sexualbegleitung-berufsgenossenschaft-muss-nach-arbeitsunfall-sexualassistenz-zahlen-a-665a4d9a-0667-44d2-8a60-21113349a740

Aktion Mensch: https://www.aktion-mensch.de/menschen-und-geschichten/aus-dem-leben/sexualassistenz?fbclid=IwAR1bv-GgKdycaq8YHbRB3-THECmzR0qT-wXz0ff1KPFkikhvn0NdeLfuOf8&fs=e&s=cl LTO Legal Tribune Online: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/sg-hannover-s58u134-18-berufsgenossenschaft-muss-kosten-fuer-sexualassistenz-uebernehmen-teilhabe/ Weitere Infos: Sexualassistenz | Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. (bsd-ev.info)
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